46
Wir hatten abgemacht, dass ich Rad am nächsten schönen Tag abholen würde, an dem ich frei hätte. Ich konnte ihn nicht telefonisch erreichen; ich würde einfach aufkreuzen. »Woher weißt du, dass ich komme?«, fragte ich. Ich treffe lieber konkretere Verabredungen.
»Werd ich nicht. Wenn es schön ist, und du kommst nicht, weiß ich, dass du arbeiten musstest.«
»Woher weiß ich, dass du da bist?«
»Ich muss da sein. Wo soll ich denn hin? Ich könnte höchstens auf der Insel sein und angeln, aber dann hinterlasse ich dir einen Zettel an der Tür.«
An diesem Abend betete ich um schönes Wetter, aber in den nächsten drei Tagen regnete es, und am vierten schien die Sonne, aber ich musste unterrichten. Ich war ungewöhnlich schroff zu meinen Schülerinnen, und ein Mädchen ging weinend nach Hause.
»Stopp«, befahl ich nach der Hälfte eines Stückes, das ich ihr in der Woche zuvor aufgegeben hatte und das sie offenbar an diesem Morgen zum ersten Mal sah. Ich hatte schon überlegt, ob ich sie zur Strafe bis zum bitteren Ende weitersägen lassen sollte, aber es klang unerträglich, und ich machte der Sache ein Ende. Das Sägen stoppte und das Mädchen blickte auf, mit einer Mischung aus Angst und Erleichterung.
»Sarah«, sagte ich müde. »Die Leute hören sich klassische Musiker an und sagen: ›Wie können sie so spielen?‹, als wäre es nur eine Glücksfrage. Aber die Antwort lautet, dass sie seit zehn, zwanzig, dreißig Jahren jeden Tag stundenlang üben.«
Sarah lächelte höflich, aber verständnislos.
»Was ich sagen will, ist, wenn du nicht übst - und ich sehe, dass du dieses Stück überhaupt nicht geübt hast«, ich wehrte ihr halbherziges Protestgemurmel mit einer Handbewegung ab, »sind diese Stunden eine absolute Zeitverschwendung. In der halben Stunde pro Woche, die wir zusammen haben, wirst du nie irgendwelche Fortschritte machen.« Ich fand langsam Gefallen an meinem Thema. »Du solltest lieber im Physiklabor sein oder wo du jetzt auch immer sein solltest. Da lernst du vielleicht etwas Interessantes, und das ist mehr, als du hier tust. Spielst du eigentlich gern Cello?«
»Manchmal ...« Sie zog mit dem Fuß einen Kratzer auf dem gebohnerten Boden nach. »Nein«, räumte sie ein. »Aber ich rede gern mit Ihnen. Ich hasse nur das Üben.«
»Tja, ich finde, du solltest dir überlegen, ob du aufhörst.«
Manchmal überrasche ich mich selbst. Normalerweise empfehle ich das keiner Schülerin, die auch nur andeutungsweise begabt ist - ich will mich nicht um meinen eigenen Job bringen aber ich hatte plötzlich Lust, Rads Evangelium des Minimalismus zu lehren. »Wenn ich zu Hause aufräume«, improvisierte ich, »sehe ich mir Sachen an und denke: ›Brauche ich das?‹ Und wenn nicht: ›Gefällt es mir?‹ Und wenn die Antwort nein ist, werfe ich es weg. Hier ist es genau dasselbe: Du brauchst offensichtlich nicht Cello zu spielen, und du hast zugegeben, dass es dir nicht gefällt. Also ...«
»... ihre Eltern haben am nächsten Tag die Direktorin angerufen und sich beschwert, dass ich ihrer Tochter gesagt habe, sie soll ihr Fünfzehnhundert-Pfund-Cello in den Mülleimer werfen.«
»Und hat sie es getan?«
»Ahm, im übertragenen Sinne ja. Sie hat aufgehört. Aber die Direktorin hat mich gebeten, mich beim nächsten Mal mit meiner Berufsberatung etwas zurückzuhalten.«
Rad lachte. »Ich dachte nicht, dass du mich deinen Schülerinnen als Beispiel vorhalten würdest.«
»Oh, aber du hast mich vollkommen bekehrt. Du wirst nicht glauben, wie viele Paar Schuhe ich in den letzten Tagen weggeworfen habe.«
Rad sah auf meine Füße. Wir liefen über den breiten Weg zum Zierteich in Kew. Er hatte an Deck in einem Liegestuhl gesessen und Zeitung gelesen und als ich ankam, sein verletztes Bein ausgestreckt. Er trug eine dunkle Brille, sodass ich aus der Ferne nicht sehen konnte, wohin er blickte, und befangen den langen Weg über den Treidelpfad gehen musste, während ich überlegte, ob er mich beobachtete. Als ich noch ungefähr zwanzig Meter vom Boot entfernt war, hatte er, ohne sich ansonsten zu bewegen, eine Hand mit der Fläche nach außen gehoben, und ich wusste, er hatte mich schon die ganze Zeit gesehen.
In meinem Eifer, meine Wohnung auszuräumen, hatte ich natürlich mein Auto vergessen, das voller Getränkekartons, Bonbonpapier, Chipskrümel und kaputten Kassettenhüllen war.
»Du brauchtest dir nicht die Mühe zu machen, für mich aufzuräumen«, sagte Rad trocken, als er in dem Müll Platz für seine Füße suchte.
»Ich weiß«, sagte ich. »Deshalb hab ich‘s auch nicht getan.«
»Ich komme mir inzwischen vor wie ein Heuchler«, sagte Rad, als er auf der Suche nach Döbel in den Teich spähte. »Während du Sachen rausgeworfen hast, habe ich mir was gekauft. Zwei Sachen.«
»Was?«
»Das Hausboot. Und einen Stuhl. Ich habe beschlossen, dass nur einen zu haben ein bisschen ungesellig ist. Und jetzt, wo ich den neuen habe, ist mir aufgefallen, wie unbequem der alte ist.«
»Wie um alles in der Welt hast du einen Stuhl dahin gekriegt?«
»Mit Dad und einem Dachträger.«
»Das erste Mal, als ich deinen Vater sah, hat er Möbel geschleppt«, sagte ich und hielt dann schnell den Mund, als mir klar wurde, dass Rad sich vielleicht nicht gern in Erinnerungen an den Tag ergehen würde, als seine Eltern getrennte Betten bezogen.
»Genau genommen hat er nur die beiden Verkäufer rumkommandiert. Ich habe darauf geachtet, meine Schlinge zu tragen, sodass man von mir keine Hilfe erwarten konnte.« Er hob seinen gebrochenen Arm und versuchte mit verkniffenem Gesicht pantomimisch einen Tennisaufschlag darzustellen. »Jetzt werde ich nie in Wimbledon gewinnen«, sagte er mit einem Hauch Selbstmitleid.
»War das sehr wahrscheinlich?«
»Nein. Aber ich mag es nicht, wenn ich etwas ausschließen muss. Du etwa?«
Wir liefen zwischen Blumenbeeten entlang, die wie violette und rosafarbene Mosaike angelegt waren. Hier herrschte Symmetrie vor: Die Tulpen wuchsen alle gleich hoch, und die Stiefmütterchen blühten gleichzeitig. Rebelliert, drängte ich sie im Stillen. Los, welkt, kippt um.
Obwohl es in der Sonne warm war, wehte eine kalte Brise und der plötzliche Schwall heißer, feuchter Luft, der uns entgegenschlug, als wir das Palmenhaus betraten, überraschte mich. An den Fenstern perlte Kondenswasser, und hoch über unseren Köpfen blühten feine Nebelstrahlen an Metallstämmen. Rad sah hinauf zum Balkon, der um die Innenseite des Daches lief. »Geh nur hoch, wenn du mochtest«, sagte er. »Ich bin mir nicht sicher, oh ich die Wendeltreppe bewältigen kann.« Als ich oben war - meine Schuhe klirrten auf den Stufen und brachten das weiße Eisengeländer zum Singen war ich schwindlig und außer Atem. Die Hitze und Feuchtigkeit waren überwältigend; von der Decke tropfte Feuchtigkeit auf meine Haare. Durch die Wasserdunstschleier unter mir konnte ich Rad sehen, der zwischen den Pflanzen hin und her ging und sich hinhockte, um ihre Namen zu lesen. Die einzige andere Person auf dem Balkon war eine alte Frau in einem geblümten Kleid, Neonsocken, Wanderstiefeln, einem Pferdefellmantel und einer Bommelmütze. Sie machte sich Notizen in ein Tagebuch und murmelte hemmungslos vor sich hin. So werde ich eines Tages auch sein, dachte ich plötzlich. Eine verrückte alte Tante in Neonsocken und bequemen Schuhen, die allein botanische Gärten und Schlösser besucht. Ein großer Wassertropfen fiel auf meine Wange, und als ich ein Taschentuch aus meiner Manteltasche zog, fiel einer meiner Handschuhe - ein frivoles, rosafarbenes Lederding der zusammengerollt darin gesteckt hatte, heraus, segelte zwischen den Stäben der Brüstung hindurch und landete keinen Meter von Rad entfernt auf dem Boden. Er sah nach oben, als würde er mit einer ganzen Lawine rechnen, und als er sah, dass ich mich übers Geländer beugte und entschuldigend mit dem zweiten Handschuh wedelte, tat er so, als würde er etwas Missbilligendes murmeln und hob den anderen auf. Einen Augenblick später war das Klappern von Füßen auf der Treppe zu hören, und er erschien auf dem Balkon.
»Ich nehme deine Herausforderung an«, sagte er und gab mir den Handschuh zurück. »Egal, was es ist.«
»Das bezweifele ich«, sagte ich und sah ihm ins Gesicht, und einen Augenblick lang knisterte vorgetäuschte Feindseligkeit zwischen uns.
»Verzeihung, Verzeihung«, sagte eine Stimme, und wir drückten uns an die warmen Wasserrohre, die um die Wände liefen, um die Frau mit der Bommelmütze vorbeizulassen, die immer noch vor sich hin murmelte.
»So werde ich auch mal enden«, flüsterte ich Rad zu, sobald sie außer Hörweite war. Er betrachtete sie kritisch von hinten, nahm die Neonsocken auf Halbmast und den haarenden Mantel zur Kenntnis und sah dann mit prüfendem Blick zurück zu mir.
»Ehrgeiz ist etwas Schreckliches«, sagte er und ging mit großen Schritten zur Treppe am anderen Ende, bevor mir eine passende Antwort einfallen konnte.
Unten gingen wir an Tamarinden- und Elfenbeinbäumen, bengalischen Feigen, Zuckerrohr und einer Ölpalme mit einem haarigen Stamm wie einem Affenarm vorbei. Im Untergeschoss gab es riesige Algen, stahlblaue und gelbe Fische und rote Algen wie zerknitterter Samt.
»Hast du einen Garten?«, fragte Rad, als wir schließlich aus der tropischen Hitze des Palmenhauses in die Kälte eines englischen Frühlings traten.
»Nein, ich habe am Fenster einen Blumenkasten mit vernachlässigten Pflanzen«, sagte ich und zog mir den Mantelkragen über die Ohren.
»Ich verstehe, dass Gartenarbeit ziemlichen Spaß machen kann«, sinnierte er. »Ich meine, wenn alle anderen möglichen Quellen der Freude erschöpft sind.«
Ich nickte. »Aber in diesem Stadium befinden wir uns noch nicht ganz.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nicht ganz.«
Ich bemerkte, dass er langsam müde wurde, als wir den Cherry Walk erreichten. Sein Bein machte ihm offensichtlich Probleme, und mir fiel zum ersten Mal auf, dass er humpelte. Der Himmel war inzwischen bewölkt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es regnen würde. Wir schafften es bis zum King William Temple, wo obszöne Graffiti ins Mauerwerk eingeritzt worden waren und es nach Zigaretten stank wie in einem Bushäuschen, als der erste Schauer kam. Tanya ist eine frigide Kuh, lautete ein Spruch. Rad schnitt wegen des Gestanks und der Einkerbungen an der Wand eine Grimasse. »Ich hasse dieses Land«, sagte er voller Ekel. So war er schon den ganzen Tag gewesen - in der einen Minute hatte er gescherzt und in der nächsten war er in sich gekehrt und missmutig. Einen Großteil unseres Rundgang durch die Gärten hatten wir schweigend zurückgelegt. Ich stand nahe an der Tür und blickte durch den Wasservorhang hinaus in die dampfenden Gärten. Ich erinnerte mich plötzlich an das letzte Mal, als wir gemeinsam vor dem Regen Schutz gesucht hatten, in dem Cottage in Half Moon Street, und wagte nicht, ihn anzusehen, falls er auch daran gedacht hatte. »Komm schon, es ist doch nur Regen«, sagte ich und trat hinaus in den Monsun. Ich wollte nicht herumhängen wie jemand, der darauf wartete, geküsst zu werden.
»Das war eine gute Idee von dir«, sagte er ein wenig später, als wir im Café saßen, das Wasser von unseren Haarspitzen tröpfelte und an unseren Mänteln herunterlief. Schon in den ersten Sekunden, nachdem wir vom Tempel losgerannt waren, waren wir so durchnässt, dass es sinnlos gewesen war, sich weiter zu beeilen. »Wir hätten einen Regenschirm mitnehmen sollen«, sagte Rad und beobachtete, wie ich meinen Schal in den Pflanzentopf neben mir auswrang.
»Ich habe einen brandneuen im Kofferraum«, sagte ich, als wäre das jetzt noch von Interesse. »Ich wollte ihn mir für schlechtes Wetter aufheben.«
Er stellte seinen Kaffee unberührt ab. »Ich wollte dir eigentlich sagen, dass du dich nicht verändert hast«, sagte er, »aber mir ist gerade aufgefallen, dass du nicht mehr rot wirst. Oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht mehr oft. Ich muss meine ganze Verlegenheit schon früh losgeworden sein.«
Das war von all unseren Gesprächen, seit ich ihn angelnd auf der Insel gefunden hatte, seine erste Andeutung, dass etwas wie eine gemeinsame Vergangenheit überhaupt existierte.
»Du scheinst mehr Selbstbewusstsein zu haben.«
»Das ist komisch«, sagte ich und rührte braune Zuckerkristalle in meinen Kaffee. »Weil du weniger zu haben scheinst. Aber du hattest ja sowieso viel zu viel.« Ich lächelte, um ihn wissen zu lassen, dass ich Witze machte, was ich auch tat, fast.
»Ich glaube, wenn man jung ist, ist man eine extreme Version von sich selbst, und wenn man älter wird, bewegt sich die Persönlichkeit hin zur Norm. Und dann, wenn man wirklich alt wird, schlägt es wieder ins Extrem um.«
»Ist das eine Theorie, die du über die Jahre hinweg entwickelt hast?«
»Nein, das ist mir gerad eingefallen«, gab er zu.
»Ich erinnere mich, dass du sehr streng mit mir und Frances warst. Oberflächlich war das Wort, das oft benutzt wurde.«
»Wirklich? In welchem Zusammenhang?«
»Ach, du weißt schon, hohe Absätze, Nagellack, Schmuck - all diese Mädchensachen.«
»Wirklich? Inzwischen mag ich hochhackige Schuhe ganz gern an Frauen. Obwohl sie offensichtlich nicht dazu da sind, um darin zu laufen, oder? Nur, um sie anzusehen.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Du hast dich aber verändert ...«
»Ab und zu bin ich durchaus für ein paar Trivialitäten zu haben. Zum Beispiel deine Ohrringe. Dass du dir die Mühe gemacht hast, einen kleinen goldenen Mond in das eine Ohr zu stecken und einen goldenen Stern in das andere - das ist nett.«
»Andererseits«, sagte ich, »kannst du immer noch genauso herrlich herablassend sein wie früher.«
»Entschuldigung«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Das macht die jahrelange Übung.«
Auf dem Rückweg bot Rad an, auf dem Hausboot für mich ein Abendessen zu kochen. Ich freute mich natürlich, dass er unseren gemeinsamen Tag noch ausdehnen wollte, aber vor meinem geistigen Auge erschien ungebeten dieses Regal mit den Dosensardinen und dem Milchreis. Ich konnte sie fast schmecken, und mein Gesichtsausdruck muss entsprechend gewesen sein, denn Rad sagte hastig: »Nein, natürlich, du hast wahrscheinlich andere Pläne«, und seine Stirn runzelte sich.
»Hab ich nicht«, unterbrach ich ihn. »Ich muss zwar irgendwann die Katze füttern, aber nicht in dieser Minute. Soll ich unterwegs irgendwo anhalten, um etwas einzukaufen?«, fragte ich beiläufig. »Du hattest keine großen Vorräte, als ich zuletzt da war.«
»Du machst dir Sorgen wegen meiner Kochkünste, stimmt‘s?«, sagte Rad. »Du denkst an diese Dose mit Frankfurtern.« Angesichts solcher Scharfsinnigkeit konnte ich es schlecht leugnen. »Ich hab dir doch gesagt, es sind nicht meine«, sagte er.
»Ich bin kein anspruchsvoller Esser«, erklärte ich zu meiner Verteidigung. »Aber mein Geschmack hat sich seit den Zeiten des ›Greasy Dogs‹ weiterentwickelt.«
»Meiner auch«, sagte Rad. »Meine Kochkünste leider nicht. Deshalb wird es nur Spaghetti mit Pesto geben, wenn das für deinen weiterentwickelten Geschmack nicht zu primitiv ist.«
»Das ist wunderbar.«
»Am Sonntag in einer Woche feiert Mum ihren sechzigsten Geburtstag«, sagte Rad plötzlich, als wir durch Richmond Park fuhren. »Kommst du?« Er versuchte gerade, mit einem Papiertaschentuchfetzen, den ich aus dem Handschuhfach ausgegraben hatte, die Windschutzscheibe von innen zu wischen. Obwohl die Autoheizung voll aufgedreht war, war sie den Dampfwolken nicht gewachsen, die aus unseren nassen Kleidern kamen.
»Das würde ich sehr gern«, sagte ich und spähte durch eine faustgroße durchsichtige Stelle auf die Straße.
»Alle werden da sein - außer Frances natürlich. Ich meine, Dad wird da sein ...« Er verstummte.
»Ist schon in Ordnung«, sagte ich gelassen. »Ich würde sie alle gern sehen.«
»Ich weiß, Mum würde dich sehr gern wieder sehen. Und Lawrence. Er hat mir heftig zugesetzt, als wir, na ja, den Kontakt verloren haben.«
Ich lächelte bei der Vorstellung, dass wir »den Kontakt verloren« hatten, und selbst nach dreizehn Jahren freute mich die Vorstellung, dass Rad zugesetzt worden war. »Keine Radleys zu sein war ein starkes Band zwischen uns«, sagte ich und dann: »Sechzig. Ich kann es kaum glauben. Ist sie grau?«
»Unten drunter«, sagte Rad. Er sah aus dem Fenster auf den Verkehr, der sich im Kriechtempo durch den Park bewegte. »Liegt es an mir, oder gibt es heute mehr Autos? Der Stoßverkehr scheint den ganzen Tag über anzuhalten.«
»Es wird immer schlimmer«, stimmte ich zu.
»Macht mich stolz, dass ich kein Auto habe.«
»Ja«, antwortete ich. »Viel bessere Idee, sich von jemandem mitnehmen zu lassen, der eins hat - so kann man sich überlegen fühlen, ohne den Bus nehmen zu müssen.«
Er warf mir einen Blick zu, der Klugscheißer sagte, und fing an, meine klassischen Kassetten durchzusehen, die in das Fach im Armaturenbrett gezwängt waren.
»Wer ist der größte Komponist?«
»Mozart«, sagte ich, ohne eine Sekunde zu zögern. »Wer ist der größte Philosoph?«
»Hume«, sagte er. »Aber ich habe den Kurs nie zu Ende gemacht.«
Darüber musste ich einfach lachen. »Was hast du denn getan, damals in Durham?«
»Ich weiß nicht mehr. Ich glaube, ich hatte eine Art Zusammenbruch. Nach Birdies Tod bin ich grade so durch das Herbsttrimester gekommen, gewissermaßen schlafwandelnd, aber an Weihnachten bin ich leicht durchgedreht. Ich war so besessen vom Tod, dass ich in nichts mehr einen Sinn sah - essen, arbeiten, aufstehen, ins Bett gehen. Mum hat mich zu einer Psychotherapeutin in Battersea geschickt. Sie hat nur mit gefalteten Händen da gesessen und ab und zu mit einer Gegenfrage auf meine Fragen geantwortet, und nach etwa drei Monaten rechnete ich aus, was es gekostet hatte, und dachte, Gott, dafür hätte ich um die Welt reisen und mehr Antworten bekommen können, deshalb habe ich damit aufgehört. Dann, als mir die Idee mit dem Reisen erst mal gekommen war, fing ich an, über den Voluntary Service Overseas nachzudenken, und sechs Monate später war ich in Indien.«
»Man sollte meinen, sie versuchen, die Leute auszusieben, die nur vor etwas weglaufen.«
»Ich bin nicht nur weggelaufen. Aber ich glaube, etwa neunzig Prozent der Freiwilligen, die ich unterwegs getroffen habe, sahen die ganze Sache als eine Art Fremdenlegion.«
»Wie lange warst du denn dort?«
»Zwei Jahre. Dann kam ich zurück und bekam einen Job bei diesem Trockengebiet-Projekt, und nach ein paar Jahren im Büro wurde eine Stelle im Senegal frei.«
»Und jetzt bist du hier.«
»Ja. Hier bin ich«, sagte er, aber er klang nicht sehr überzeugt.
Auf dem Hausboot zündete Rad den Calor-Gasofen an und hing unsere Mäntel über einen wackeligen Wäscheständer davor. Er besah sich meine Jeans, die wie seine von den Knien bis zu den Knöcheln patschnass war, verschwand in der Gästekajüte und kam mit ein paar Handtüchern zurück. »Möchtest du duschen, während ich mich mit diesem Glas Pesto herumschlage? Es ist die einzige Methode, wie einem hier warm werden kann. Du kannst dir von mir eine Hose leihen, während deine trocknet, wenn du magst.« Er schob die Kajütentür auf und zeigte auf die Stapel sauberer Wäsche. »Bedien dich.«
Das ist ein bisschen abartig, dachte ich, als ich mir eine braune Kordhose aussuchte, die Lexi mit einer Falte vorn gebügelt hatte, und ein ausgeblichenes Jeanshemd. Im Bad inspizierte ich Rads Toilettenartikel nach Anzeichen weiblicher Wesen: Shampoo, Seife, Deodorant, Zahnpasta, Rasierschaum und ein Bic-Rasierer. So weit, so gut. Ich hörte ihn draußen mit Kochtöpfen klappern und das Heulen des laufenden Wasserhahns. Die Dusche war so niedrig angebracht, dass sich nur ein Zwerg die Haare waschen konnte, ohne sich zu bücken, und selbst unendlich kleine Regulierungen am Thermostat konnten mir kein Wasser liefern, das eine Temperatur zwischen eiskalt und kochend hatte. Ich schrie, als Rad den Wasserhahn in der Küche abdrehte und siedend heißes Wasser aus dem Duschkopf strömte.
»Tut mir Leid«, rief er. »Ich habe vergessen zu erwähnen, dass der Thermostat klemmt. Man braucht das Fingerspitzengefühl eines Gehirnchirurgen.«
Dort drinnen war kein Platz, sich anzuziehen, und außerdem standen, als ich fertig war, alle Flächen unter Wasser. Deshalb war ich gezwungen, in ein Handtuch gewickelt und mit roten Schultern herauszukommen und nervös in die Gästekajüte zu gehen, wobei ich ständig Kleidungsstücke fallen ließ und wieder aufhob. Rad, der mit hochgelegtem Bein auf der Bank saß, las und Rotwein trank, beobachtete amüsiert mein würdeloses Vorrücken. »Ich fürchte, es ist ein bisschen Wasser auf den Boden gekommen«, sagte ich, wobei ich leicht untertrieb.
»Macht nichts«, sagte er. »Nimm dir ein Glas Wein.« Und dann: »Allmächtiger, was hast du da drin gemacht?«, als er mit einem Platschen ins Bad trat.
Ich goss Wein in ein leeres Glas - eins von diesen unzerstörbaren Dingern, die sie im Zuge von Benzinwerbekampagnen verschenken. Ich hatte auch noch ein paar davon zu Hause; sie haben alle anständigen überlebt - sprangen praktisch wieder hoch, wenn man sie fallen ließ. Auf dem Herd fing der Topfdeckel an zu klappern, deshalb stellte ich ein Bündel Spaghetti ins blubbernde Wasser und sah zu, wie es zur Seite und dann umfiel. Auf der Anrichte befanden sich ein Glas mit grünem Pesto und ein Stück Parmesan, das aussah, als hätte es ein paar Wochen in einer Mausefalle gelegen. Natürlich gab es keine Käsereibe, deshalb musste ich mit einem stumpfen Obstmesser große Stücke abhacken.
Wie kann man nur so leben?, fragte ich mich. Mit Sachen auskommen, die man in einem schlecht ausgestatteten Wohnwagen finden würde. All dieses Improvisieren war völlig akzeptabel, wenn man zwei Wochen Urlaub machte, aber Rad war schon über vier Monate hier, und das Boot gehörte jetzt ihm. Man konnte diesen Minimalismus auch übertreiben, befand ich.
Als ich mit dem Käse fertig war und die Spaghetti umgerührt hatte, nahm ich meinen Mantel, der inzwischen dampfte, vom Trockengestell und legte dafür meine nasse Jeans und meinen Pulli darauf. Dann ließ ich mich mit meinem Wein auf der Bank nieder und nahm Rads Buch in die Hand, eine alte Penguin-Ausgabe von Drei Mann in einem Boot, Preis drei Pfund sechs Pence, und schlug die erste Seite auf. »Wir waren zu viert - George, William Samuel Harris, ich selbst und Montmorency ...« Ein Lesezeichen fiel auf den Tisch. Es war meine Karte: Die, die ich ihm vor etwa drei Monaten geschickt hatte und auf die er nie reagiert hatte. Schade, dass wir neulich Abend nicht die Gelegenheit hatten, uns richtig zu unterhalten. Als ich sie wieder zwischen die Seiten schieben wollte, sah ich, dass er auf der Rückseite überall um die Adresse herum den Namen Jex gekritzelt hatte, immer und immer wieder, Dutzende von Malen, in großer und kleiner Schrift. Ich spürte, wie meine Kopfhaut kribbelte, und dann öffnete sich die Badtür, und ich ließ schuldbewusst das Buch fallen und stand auf.
»Es ist fast fertig«, sagte ich und deutete auf den Topf. Er brach in Gelächter aus, als er meine Aufmachung sah. Ich nehme an, in seinem überdimensionalen Hemd und seiner Hose, alles an Knöcheln, Handgelenken und Hosenbund mehrfach hochgerollt, sah ich aus wie eine dieser selbst gemachten Puppen, die man in der Guy-Fawkes-Nacht zusammengesackt vor U-Bahn-Stationen liegen sieht. Während er in seiner Kajüte war und sich umzog, suchte ich nach etwas, worin ich mein Aussehen kontrollieren konnte, und entdeckte schließlich in einer Schranktür ungefähr in Brusthöhe eine angeschlagene Spiegelkachel. Der ehemalige Besitzer des Bootes war offensichtlich nicht eitel gewesen.
Die Nudeln waren inzwischen gar und ich suchte nach einem Sieb, fand aber nur ein verbogenes Teesieb mit einem Loch in der Mitte, das so groß war wie ein Zehnpencestück, und war gezwungen, mit dem Topfdeckel zu operieren. Rad erschien in einer trockenen Jeans und einem weißen Hemd, rubbelte sich die nassen Haare mit einem Handtuch und ertappte mich dabei, wie ich Spaghettifäden aus der Spüle holte. Wir waren inzwischen so hungrig, dass uns gar nicht aufgefallen wäre, wenn sie leicht nach Spülmittel geschmeckt hätten. Rad setzte sich auf die Bank und legte sein Bein hoch, und ich saß gegenüber auf dem neuen Stuhl - ein schönes, aber ziemlich hartes viktorianisches Exemplar. Rad hatte ein Teelicht gefunden, das er in einem Marmeladenglas zwischen uns auf den Tisch stellte. »Da«, sagte er. »Ich hoffe, all dieser Luxus ist dir nicht unangenehm.«
»Wenn ich gewusst hätte, dass ich ein Candlelight-Dinner bekommen würde, hätte ich meine Juwelen angelegt«, sagte ich und rollte zum x-ten Mal den Ärmel meines geborgten Hemds wieder hoch.
Der Nachtisch bestand aus einem Apfel und einem Müsliriegel, den wir uns zu einer Tasse Kaffee teilten. Ich war froh, dass die Pralinen, die ich ihm bei meinem ersten Besuch mitgebracht hatte, nicht mehr da waren. Es wäre mir schwer gefallen, jemanden für eine Selbstbeherrschung zu bewundern, bei der eine Schachtel Trüffel fast eine Woche überlebte.
»Sie werden dich bald wieder im Büro sehen wollen, oder?«, fragte ich, als wir abwuschen. »Du musst jetzt schon seit ein paar Monaten krank sein.«
»Sie waren sehr verständnisvoll«, sagte Rad. »Sie wollen mich erst wieder sehen, wenn ich wieder gesund und fit bin.« An der abgehackten Art, wie er sprach, bemerkte ich, dass er dieses Thema nicht gern weiter verfolgen würde, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, warum. »Was ist mit deinem Job?«, fragte er. »Du hast mir noch gar nichts darüber erzählt.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich probe, ich trete auf, ich reise ziemlich viel. Ich unterrichte auch, aber nicht sehr gut, weil ich so oft weg bin. Ich habe überhaupt kein Privatleben, weil meine Abende für Konzerte draufgehen. Und wenn ich doch mal einen Vormittag oder einen Nachmittag frei habe, kann ich ihn mit niemandem verbringen, weil alle normalen Leute arbeiten. Aber ich will mich nicht beklagen. Ich weiß, dass ich Glück habe, mit meinem Hobby meinen Lebensunterhalt verdienen zu können.«
»Sie muss sehr wichtig für dich sein, deine Karriere - du spielst schon, seit du wie alt warst?«
»Neun. Ja, ich denke schon. Ich meine, ich kann auch nichts anderes.«
»Die Konkurrenz an der Spitze muss sehr hart sein.«
»Ich weiß nicht. Ich bin nicht an der Spitze - ich bin durch und durch zweitklassig.«
»Das bist du sicher nicht.«
»Nein, ehrlich. Ich dachte, ich könnte es als Solistin schaffen, als ich das Royal College abgeschlossen hatte, weil ich ein paar Wettbewerbe gewonnen hatte. Aber es hat nicht geklappt. Ich hatte Glück, einen Job bei einem Provinzorchester zu bekommen - und sogar noch mehr Glück, als diese Stelle hier in London frei wurde. Es ist nicht wie bei anderen Karrieren, wo man sich langsam zu hohem Ansehen hocharbeitet. Wenn man hier den Anschluss verpasst, dann war‘s das.« Wie in meinem ganzen Leben, dachte ich.
»Wie kannst du sagen, du hast den Anschluss verpasst? Du spielst in einem der besten Orchester des Landes. Auf der Welt, nach allem, was ich weiß.«
»Ich habe doch gesagt, ich beklage mich nicht. Ich möchte nur nicht, dass du dir eine falsche Vorstellung davon machst, wie berühmt oder erfolgreich ich bin. Denn ich bin nichts von beidem.«
»Es ist seltsam, wenn man bedenkt, dass du all die Jahre, in denen wir dich kannten, still und heimlich an etwas gearbeitet hast, worin du dann wirklich hervorragend geworden bist. Ich glaube nicht, dass einer von uns dich je hat spielen hören.«
»Ich weiß noch, dass Nicky ziemlich überrascht war, als er herausfand, dass ich Cello spiele«, sagte ich und blickte durch meine Ponyfransen zu Rad auf. »›Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendwas zwischen die Beine nimmt‹, hat er, glaube ich, gesagt - zu deiner großen Belustigung.«
Rad, der gerade den Pastatopf spülte, hielt inne und schrubbte dann etwas schneller weiter. Ich konnte sein Gesicht nicht richtig erkennen, weil er mir den Rücken zuwandte und es inzwischen dunkel geworden war. Das einzige Licht kam von der Kerze und vom blauorangen Schein des Gasofens.
»Ich hab es doch nicht geschafft, dich in Verlegenheit zu bringen, oder?«, sagte ich.
Er lachte verlegen. »Ich kann mich an das Gespräch nicht erinnern, aber ich glaube dir aufs Wort, denn es klingt eindeutig nach Nicky, und es hat sich offensichtlich in dein Gedächtnis eingebrannt.«
»Tja, ich fürchte, es hat mich in dem völlig falschen Eindruck bestätigt, den man als Teenager hat, dass auf die ein oder andere Art jeder eine Meinung über einen hat. Es ist eine solche Erleichterung, wenn man älter wird und bemerkt, dass niemand auch nur einen Augenblick über einen nachgedacht hat.«
»Du übertreibst«, sagte er.
»Überhaupt nicht. Als ich auf die dreißig zuging, habe ich plötzlich beschlossen, dass ich mir nie wieder Gedanken darüber machen würde, was die Leute von mir denken. Diese Spitzenerfahrung wird dir entgangen sein, weil du dir noch nie Gedanken darüber gemacht hast, was andere von dir denken.«
Das bestätigte er mit einem Lächeln. »Ich meinte, du übertreibst, wenn du sagst, dass niemand eine Meinung über dich hat. Ich zum Beispiel habe eine.«
»Ach ja?«, sagte ich so neutral wie möglich.
»Aber ich denke nicht im Traum daran, sie dir zu sagen, weil du mich jetzt vollkommen überzeugt hast, dass du nicht im Geringsten an der Meinung anderer interessiert bist.«
Das nasse Geschirrtuch schnappte, als ich ihn damit schlug und ihn knapp überm Ellbogen traf. Er lachte und trat einen Schritt zurück. »Ja ich sehe, dir steht die reine Gleichgültigkeit ins Gesicht geschrieben.« Schnapp. Er wich mir aus, und der Luftzug löschte das Teelicht, und wir sahen uns nur noch im Schein des Ofens. »Du würdest doch gegen einen hilflosen Krüppel keine Gewalt anwenden, oder?«
Schnapp. Diesmal fing er das Ende, und wir standen dort im Dunkeln, das straff gespannte Geschirrtuch zwischen uns. »Ich wollte nur sagen, dass du mit dem Alter gereift bist«, sagte Rad.
»Wie ein Käse?«
Das ignorierte er. »Obwohl du immer noch schlecht , darin bist, Komplimente entgegenzunehmen.« Das Geschirrtuch lockerte sich und ich nahm es zurück.
»Tja, ich habe eben keine Übung«, sagte ich, faltete es zusammen und dann wieder auf. »Und wenn ich das so sagen darf, ich bin mir nicht so sicher, ob du so gut darin bist, welche zu machen: ›Mit dem Alter gereift‹ klingt, als wäre ich etwas unreif gewesen, als ich jung war.«
»Das liegt daran, dass du eine masochistische Freude daran hast, dich selbst herabzusetzen.«
»Du bist sehr überzeugt von deinem Urteil über meinen Charakter. Und das, nachdem wir uns erst so kurze Zeit wieder kennen.«
»Ich hatte nicht viel anderes, worüber ich in den letzten Tagen nachdenken konnte.«
»Du musst öfter mal raus.«
»Das hab ich auch vor. Darum ging es doch heute, weißt du nicht mehr?«
»War das Experiment ein Erfolg?«
»Bisher schon. Aber der Tag ist noch nicht zu Ende.«
Ich sah auf die Uhr: 23 Uhr. »Aber fast«, sagte ich.
»Dann werden diese letzten paar Minuten entscheidend sein. Es kann sich immer noch in verschiedene Richtungen entwickeln.«
»Dann sollten wir lieber vorsichtig sein.«
»Nein. Vorsichtig sein wäre verheerend. Ein vorsichtiger Mensch würde Mantel und Handtasche nehmen und nach Hause in seine kleine, ordentliche Wohnung gehen, um die Pflanzen zu gießen und die Katze zu füttern. Hier ist Leichtsinn angesagt.« Er ging einen Schritt auf mich zu, und eine Sekunde lang dachte ich, er würde mich küssen, doch stattdessen fing er an, mein Hemd aufzuknöpfen.
»Was tust du da?«
»Das ist mein Hemd. Ich nehme mir nur, was mir gehört.«
Später, als wir in der winzigen Kajüte lagen und durch den Spalt in Rads Hemden den Mond betrachteten, sagte ich: »Hast du mit Birdie geschlafen?«, und schämte mich dann sofort. Selbst mit einem Abstand von fast vierzehn Jahren konnte ich auf jemanden eifersüchtig sein, der so tot war wie Mozart und Hume.
Er rollte sich auf die Seite und stützte sich auf einen Ellenbogen, um mich anzusehen. »Nein, natürlich nicht. Sie war deine Schwester - ich bin nicht völlig verkommen.« Es folgte eine Pause, dann fügte er leiser hinzu: »Aber ich hätte es tun können«, und dieses kleine Aufblitzen männlicher Eitelkeit gefiel mir fast so gut wie das Dementi selbst.
»Ich habe nur gefragt, weil du damals, als du mir erzählt hast, was passiert ist, gesagt hast, du hättest gegen die Pubtür geschlagen und gerufen: ›Meine Freundin ist im See.‹«
»Wirklich? Gott, es muss ein Fluch sein, dein Gedächtnis zu haben«, sagte Rad und sah mich mit einer Mischung aus Verblüffung und Mitleid an. »Ich habe wahrscheinlich nur versucht, Aufmerksamkeit zu erregen. Es war nicht gerade der richtige Augenblick für komplizierte Erklärungen.«
»Tut mir Leid.«
»Schon gut.«
»Weißt du noch, was ich gesagt habe, als du es mir erzählt hast?«
»Abigail, ich fürchte, ich weiß nicht mehr viel von diesem Gespräch. Es ist nichts Persönliches - es ist einfach aus meinem Gedächtnis gelöscht.«
»Gut.«
Er küsste mich auf die Stirn. »Hast du je ihr Grab besucht?«
»Nur zwei oder drei Mal. Ich hatte immer Angst, Val über den Weg zu laufen. Ich bin nämlich ein Feigling. Aber es geht jemand hin, denn jedes Mal, wenn ich da war, standen frische Blumen darauf.«
»Val ist nicht nachtragend. Ich habe sie bei der gerichtlichen Untersuchung wieder gesehen, als ich aussagen musste. Danach hat sie zu mir gesagt: ›Lass dir dadurch nicht dein Leben zerstören.‹ Das hat mir mehr geholfen als alle Beratungen und die Therapie.«
»Du hast auch gesagt, Birdie hätte Half Moon Street schon gekannt.«
»Ja, sie war schon mit Val dort gewesen.«
»Mein Vater und Val haben sich dort immer getroffen. Als ich klein war, hat er mich einmal mit dorthin mitgenommen, und er hat mir erzählt, er hätte schöne Erinnerungen an den Ort, aber wir waren nie mit meiner Mutter da.«
»Vielleicht wurde Birdie dort, nun ja, empfangen«, sagte Rad, der laut dachte, hielt aber schnell den Mund, als ihm klar wurde, dass er ein Bild von meinem Vater zeichnete, über das ich lieber nicht nachdachte. »Ach, wahrscheinlich nicht«, sagte er und legte den Arm um mich. »Kannst du so schlafen?«, fragte er, als ich mich in seine Armbeuge schmiegte.
Es kam mir vor, als wäre es nur Sekunden später gewesen, als Rad mich schüttelte. Ich hatte intensiv geträumt, ausgerechnet von der Last Night of the Proms, und es dauerte eine Weile, bis ich das Gefühl abschütteln konnte, dass ich mich immer noch mit den Zuschauern in der Royal Albert Hall zur Musik wiegte.
»Riechst du was?«
Ich schnupperte. »Rauch.«
Er kletterte über mich zur Tür und öffnete sie. In dem Bruchteil einer Sekunde, bevor er sie wieder zuschlug, hörte ich das leise Prasseln von Feuer.
»O Scheiße, das Boot brennt«, sagte er, sprang zum Fußende und schob das Fenster auf. »Ich habe vergessen, den Gasofen auszustellen, und dieser blöde Wäscheständer muss drauf gefallen sein.« Ich hörte kaum zu: Mir dämmerte gerade, dass die Fenster zum Fluss hinausgingen, nicht zum Ufer. Betäubt sah ich zu, wie er Boxershorts und ein T-Shirt anzog. »Komm, wir müssen uns beeilen. Der Gasbehälter kann explodieren. Es sind nur knapp zwei Meter bis ins Wasser. Ich springe zuerst und fange dich auf.«
Ich schüttelte den Kopf. Mein restlicher Körper war vor Angst gelähmt. »Ich kann nicht ins Wasser springen«, sagte ich. »Ich kann‘s nicht. Können wir nicht versuchen, so rauszukommen?«
»Du machst wohl Witze. Da draußen ist eine Hitze wie im Backofen.« Ich wollte die Türklinke anfassen, doch er packte mich am Handgelenk. »Fass die Tür nicht an!«, schrie er, und ich wich zurück aufs Bett. »Hör zu, es sind nur ein paar Meter bis zum Ufer. Ich verspreche dir, ich lasse dich nicht ertrinken.« Wir wechselten einen Blick, der mehr zum Ausdruck brachte, als wir je über jene schreckliche Nacht in Half Moon Street hätten sagen können. »Ich will dich nicht allein hier drin lassen«, sagte er dann. »Aber ich muss zuerst springen, damit ich dich auffangen kann. Versprichst du mir, dass du nachkommst?«
Ich nickte, und er zog sich zum Fenster hoch, das nur etwa fünfzig Zentimeter hoch und breit war. Ich hörte das Platschen, dann einen Augenblick Stille und dann Rads eindringliche Stimme vor dem Fenster: »Abigail, wo bist du?« Ich zog den Schlüpfer und das Hemd an, das ich vorher getragen hatte; meine Finger fummelten an den Knöpfen herum. Selbst in einer solchen Extremsituation konnte ich den Gedanken nicht ertragen, nackt aus dem Fluss gezogen zu werden, tot oder lebendig. Bis ich Rad rausspringen sah, war mir nicht in den Sinn gekommen, dass keine Chance bestand, zuerst die Füße über das Fensterbrett zu schwingen und mich langsam herunterzulassen. Ich stieg auf das Fußende des Bettes und spähte durch das Fenster. Rads bleiches Gesicht sah aus dem tintenschwarzen Wasser zu mir herauf. »Beeil dich«, rief er. Ich lehnte mich hinaus und balancierte auf dem Bauch auf dem Metallrand des Fensters. Während ich noch zögerte, hörte ich das Krachen zerspringenden Glases aus der Hauptkajüte, und aus den Augenwinkeln sah ich Flammen über das Bootdach züngeln, und dann schloss ich die Augen und stürzte mich in die Dunkelheit.
Der Schock kalten Wassers, das sich über meinem Kopf schloss, trieb allen Atem aus meinen Lungen und mir kam die Galle hoch; ich schmeckte hinten in meiner Kehle den Tod, doch dann spürte ich Rads Arme um mich und kalte Luft auf meinem Gesicht.
»Ich hab dich. Wehr dich nicht, sonst ziehst du mich mit runter«, sagte er, und als ich fühlte, wie fest er mich hielt, und sah, wie nah wir am Ufer waren, hörte ich auf, um mich zu schlagen, und ließ mich retten.
Als wir schließlich klatschnass und zitternd im Gras saßen, tat Rad etwas sehr Seltsames. Er umarmte mich und drückte mich fest, und ich sah, dass er weinte. »Danke«, sagte er immer wieder, und einen Moment lang dachte ich, er würde zu dem Gott sprechen, an den er nie geglaubt hatte. Aber das tat er nicht; er sprach mit mir. Was ihn betraf, hatte ich ihn gerettet.